Wein hat sich seit seiner Erfindung im sechsten vorchristlichen Jahrtausend verändert. Ich weiß, das ist keine wirklich steile These, da über so einen Zeitraum zwangsläufig allein durch technischen Fortschritt manches nicht “beim alten” bleibt. Allerdings bin ich vor ein paar Monaten etwas zusammengezuckt, als ich vom neusten Schrei innerhalb der Weinwelt gehört habe: Wein und NFTs.
Der tüchtige Herr Dreissigacker
Die Geschichte, dass der Sohn oder die Tochter das unbekannte Weingut der Eltern übernimmt, die womöglich auch noch bei der ortsansässigen Genossenschaft abgeliefert haben, alles umkrempelt, keinen Stein auf dem anderen lässt und innerhalb weniger Ernten zum neuen heißen Scheiß der Weinwelt wird, hat man inzwischen auch schon ein paar mal gehört. Heutzutage gehört zum Winzer sein auch ein gewisses Maß an Fingerspitzengefühl im Bereich “Marketing” dazu, wenn man denn nicht entweder extrem aktive Fürsprecher oder einen Legenden-Status à la Egon Müller hat. Jochen Dreissigacker treibt das Ganze aber auf die Spitze. Während sich gefühlt die meisten der Winzer mit den besonders hohen Ambitionen hauptsächlich auf die Qualität in der Flasche konzentrieren und blind darauf vertrauen, dass genügend Leute die Qualität entdecken und den Namen verbreiten, hat man beim Weingut Dreissigacker aus Bechtheim manchmal das Gefühl, als würde es sich eher um ein dynamisches Start-up handeln, das vor allem nach den Sternen greift und quasi nur noch wenige Schritte vom Börsengang entfernt ist. Das ist jetzt sicherlich sehr überspitzt, aber die gesamte Aufmachung des Weinguts und des Winzers ist so hochprofessionell, dass mir, gerade in Deutschland, kein Weingut mit einer qualitativ vergleichbaren Öffentlichkeitsarbeit, gerade im Internet, einfällt. Das fängt beim extrem minimalistischen Etikett auf der Flasche an und hört mit den sehr lebendigen und farbenfrohen Vorstellungsvideos zu den neuen Projekten des Weinguts auf.
Vor ein paar Monaten bin ich auf eines dieser Videos gestoßen. Dort erklärt Dreissigacker sein neuestes Konzept vor: Wein und NFTs. Da ich selbst nur sehr wenig Ahnung von NFTs, Kryptowährungen und Blockchain-Technologie habe, werde ich hier lieber keine ausschweifenden Erklärungsansätze schreiben. Dafür gibt es inzwischen genug Infomaterial im Internet für alle, die sich tiefer für die Materie interessieren.
Die konkrete Anwendung im Weingut besteht darin, dass die Lagenweine und Spitzengewächse des Weinguts in Zukunft an einen NFT gekoppelt werden, der es ermöglicht, den Wein 1. selbst zu besitzen, 2. auf dem Weingut unter besten Voraussetzungen reifen zu lassen, und 3. ihn bei Interesse trotzdem verkaufen zu können. Es ist Dreissigackers Antwort auf die Problematik, dass man Weine immer zu früh trinkt. Wer keinen optimal klimatisierten Keller hat, um Weine über einen längeren Zeitraum zu lagern, der soll so in der Lage sein, den Wein bei Herausgabe in den Markt zu kaufen (gesichert durch einen NFT) und ihn abzuholen, wenn er das vermeintliche geschmackliche Optimum erreicht hat.
Problem?
Ich muss gestehen, ich finde die Idee ziemlich gut. Obwohl ich per se nicht viel übrig für Kryptowährungen und einen Großteil der anderen Anwendungsbereiche von NFTs habe, bin ich in gewisser Weise eigentlich genau die Zielgruppe dieser Kampagne. Ich besitze keinen Keller mit optimalen Lagerungskonditionen und hoffe, dass meine Weine, die wirklich Reife benötigen, in den eher suboptimalen Verhältnissen des Kellers in meinem Elternhaus überleben.
Doch es gibt einige, denen Jochen Dreissigackers Idee vom Wein machen bzw. vermarkten nicht gefällt. Dabei geht es keineswegs um die Qualität der Weine, sondern rein um Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Viele der stark gefeierten Weingüter, insbesondere in Deutschland, leben vom Image des “ursprünglichen” und sehr “handwerklich arbeitenden” Familienbetrieb. Entweder haben sie schon immer so gearbeitet oder haben als Reaktion auf den starken Einfluss der Industrie auf den Weinbau Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts wieder den Weg zurück zur handwerklichen Arbeitsweise gefunden. Allein über diese Thematik könnte man sicher ein Buch schreiben, da einige Aspekte sehr facettenreich sind und von vielen Seiten beleuchtet werden können. Es geht mir in diesem Blogbeitrag nicht darum, für eine Seite Partei zu ergreifen, da ich selbst beiden etwas abgewinnen kann. Trotzdem geht das Weingut abseits der eigenen Öffentlichkeitsarbeit in der “FineWine-Deutschland Blase” gefühlt fast etwas unter, was doch sehr schade ist, weil sie teilweise wirklich sehr gute Weine produzieren.
Obwohl das Profil des Weinguts eigentlich auf Spitzenrieslinge ausgelegt ist, muss ich gestehen, dass ich mich mit Dreissigackers Rieslingen noch nie befasst habe. Dafür wusste ein Westhofener Chardonnay Ortswein mal sehr zu beeindrucken. Vielleicht muss ich mir ja doch mal ein Kryptowallet anlegen, um mal einen Lagenwein zu probieren. Bis dahin stelle ich aber gerne eine der einfacheren Qualitäten vor.
Der Wein
Es gibt Grauburgunder 2020 vom Weingut Dreissigacker aus Bechtheim. Die Trauben kommen aus Bechtheim und Westhofen von biologisch bewirtschafteten Weinbergen. Da es vom Weingut aber nicht spezifiziert wird und das Weingut auch nicht Teil des VDP ist, kann man, gerade beim Gutswein, nicht ausschließen, dass hier auch Zukauf dabei ist. Das muss kein minderwertiges Kriterium sein, macht den Prozess aber nicht unbedingt transparenter. Seit ein paar Jahren ist der Betrieb in der Umstellung auf biodynamischen Weinbau, wobei Dreissigacker dies vielmehr pragmatisch als ideologisch sieht, was ich persönlich grundsätzlich begrüße. Im Webshop des Weinguts wird der Wein als “Everybodys Darling” bezeichnet, was interessanterweise Dreissigackers eigener Auffassung der eigenen Weine gegenübersteht, da er seine Weine als “polarisierend” und eben nicht als “Everybodys Darling” sieht. Trotzdem ist, der Popularität von Grauburgunder geschuldet, da natürlich was dran, obwohl der Wein tatsächlich kein besonders leichter und einfacher Wein ist.
Im Glas
Der Wein wurde direkt nach dem Öffnen direkt doppelt (sturz)dekantiert. Dank etwas Maischestandzeit ist er farblich goldgelb und eher intensiv für einen Gutswein. Der erste Eindruck ist sehr kühl und doch reif. In der Nase kommt dann reife Birne, reifer Apfel und etwas Eukalyptus. Sehr schön. Am Gaumen zeigt sich dann die Stärke des Weins. Die Säure ist da und trägt, wird aber kein bisschen aggressiv. Trotzdem ist er nicht ohne Struktur, da nach hinten raus eine etwas schmirgelnde Phenolik durchkommt. Der Abgang ist dennoch eher kurz, was er in der Qualitätsstufe aber auch sein darf.
Insgesamt bestätigt der Wein aber meinen Eindruck von der Stilistik des Weinguts. Alle Weine teilen die Eigenschaft, dass sie extrem fokussiert und geradlinig sind. Damit meine ich, dass sie definitiv ein großes aromatisches Spektrum haben, was sich aber relativ schnell zeigt und man nicht beim Trinken immer wieder irgendwo abbiegt und noch ein anderes Aroma findet. Ich mag das, aber hierbei weiß ich, was mit “polarisierend” gemeint ist, denn diese Geradlinigkeit muss man mögen. Für einen Grauburgunder Gutswein ist das ziemlich gut, aber preislich ist das in dieser Kategorie schon eher hoch. Der 20er-Jahrgang ist voll im Rahmen, aber der 21er wäre mir, trotz Inflation, zu viel. (€).